Alte Programmierungen loslassen –
wieder kreativ und lebendig werden
Aus einem Vortrag von Karl Riedl
Wir haben alles mitbekommen, was wir für dieses Leben brauchen: Körper, Geist und alle geistigen Qualitäten. Als Kinder haben wir unsere Umgebung erkundet, waren neugierig, haben gefragt. Wir haben uns an der Bewegung und Dynamik unseres Körpers erfreut, sind gesprungen, gelaufen und gerannt, haben unsere Energie ent-deckt und vielleicht gejubelt oder gequietscht.
Waren laut.
Wir hatten Phantasie, waren kreativ auf unsere Art und Weise.
Je nach Elternhaus, Umgebung und Kultur ist dann etwas passiert.
Dieses grundsätzliche Potenzial, das wir vielleicht schon ausgedrückt hatten, wurde nicht unterstützt. Unser Fragen, unsere Neugierde, stieß sehr schnell auf Widerstand: „Nun frag doch nicht immer so blöd!“ oder „Da bist du zu klein, dazu muss man erst erwachsen werden!“
Unsere Vitalität, Lautstärke und Schnelligkeit waren nicht gewünscht: „Ruhe, sei doch endlich mal still. Ist ja fürchterlich mit dir.“
So wurden unsere grundsätzlichen menschlichen Qualitäten, die wir haben, gedämpft, beschnitten, verboten.
Aber wir wollten, wir mussten ja in dieser Umgebung leben!
Und so haben wir Strategien entwickelt, uns angepasst. Dann sind wir eben still geworden, obwohl wir eigentlich lebendig sein wollten, haben uns zurückgezogen, nicht mehr gefragt.
Wie kann uns unsere Praxis dabei unterstützen?
Die erste Praxis: Ganz bei dem sein, was ich tue
Diese Entscheidungssätze, diese Glaubenssätze, diese Verhaltensmuster werden automatisch abgerufen, wenn eine ähnliche oder vermeintlich ähnliche Situation da ist. Unsere erste Praxis heißt: ganz, total, mit all unseren Sinnen in und mit der Situation sein in der wir sind.
Thay weist auf diese hohe Präsenz hin, wenn er sagt: „You have to invest your whole being!“ (Du musst dich mit deinem ganzen Wesen einbringen). Das heißt, du bist mit deinem ganzen Herzen, deinem ganzen Körper bei dem, was du tust Dann kann sich kein extra Gedanke, kein Vergleich und keine Bewertung dazwischen schieben.
Chan-Meister Lin-Chi, auf den wir uns in unserer Tradition beziehen, hat das so ausgedrückt: „Don’t put anything on top of it“ – tu nichts oben drauf.
Das ist die Aufgabe. Diese Schlichtheit und Sachlichkeit gehört als Fähigkeit zu unserem Sein. Wenn ich klar mit dem bin, was ich tue, kann nichts anderes passieren. Ansonsten rutsche ich automatisch in ein Programm, in eine Bewertung. Durch diese Praxis trete ich sozusagen innerlich zurück. „Da ist“ – nichts weiter, keinerlei Programm. Dieses „da ist“ gibt mir den Raum die Situation klar zu erkennen und ihr mit einem offenen, flexiblen und kreativem Geist zu begegnen. Es gibt mir wieder den Zugang zu denjenigen menschlichen Qualitäten, die durch Automatismen verschwunden sind.
Und dieses „da ist“ gibt mir auch die Klarheit mitzubekommen, was mich treibt, auf welches Programm, auf welche Verhaltensweise ich sonst in dieser Situation eingegangen wäre. Und dadurch, dass ich es nicht tue, löst es sich langsam.
Die zweite Praxis: Nichts tun, was schadet
Es ist ein tiefstes menschliches Bedürfnis, eine Notwendigkeit unseres Menschseins, nichts zu tun, was uns schadet oder gefährdet. Sowohl bezogen auf uns selbst, unseren Körper, als auch auf unser Miteinander-sein.
Unsere Vorstellungen, Verhaltensweisen und kulturellen Konditionierungen stehen aber oft dagegen: „Da habe ich heute wieder zu viel gegessen.“ Und jetzt kommt der entscheidende Satz: „Da hat mich doch die Lust überkommen. Was kann ich da tun?“ Dabei ist uns meistens aus der Erfahrung heraus schon bewusst: „Wenn ich das tue, bekomme ich hinterher Bauchschmerzen, Übelkeit, fühle mich schwer im Körper etc.“
Trotzdem tun wir‘s!
Die erste Praxis hat in uns die geistige Kraft gestärkt, nicht spontan aus unseren gewohnten Programmen heraus zu reagieren, sondern anhalten und zurücktreten zu können. Das gibt uns den Zugang zu einer der ganz großen menschlichen Fähigkeiten: die Voraussicht, das Ergebnis unseres Tuns vorauszusehen. Und wenn das ganz klar und deutlich vor unseren Augen steht, wenn die Voraussicht für, die Erkenntnis in das negative Ergebnis unseres Tuns stark genug ist, entsteht ganz natürlich die Kraft,es nicht zu tun!
Wenn es doch trotz aller Einsicht im Kognitiven stecken bleibt? Dann können wir eine andere, tief im Sein des Menschen verankerte Qualität, die mehr gefühlsmäßig betont ist, einsetzen: Fürsorge, liebevolle Hinwendung – für unseren Körper, für uns selbst, für unsere Beziehungen, für andere.
Dann wird uns deutlich, wie vieles von dem was wir tun, lieblos, gewalttätig, aggressiv und zerstörerisch ist. Wenn wir in unser Herz kommen, wird es leicht für uns, von bestimmten, alten Konditionierungen loszulassen.
Die dritte Praxis: Tiefes Schauen
Die dritte Praxis steht auf einem einfachen Gesetz, das, so ausgedrückt, jedem verständlich wird: Dunkelheit ist das Fehlen von Licht.
Dunkelheit gibt es nicht, sie hat selbst keine Existenz, sondern „entsteht“, wenn kein Licht da ist. Nur Licht hat eine aktive Existenz!
In der westlichen Denkweise, vor allem in der Medizin, aber auch in der Psychologie, wird das (immer noch) umgekehrt ausgedrückt: Gesundheit ist das Fehlen von Krankheit. Zumindestens ist das die Grundlage unseres Erlebens. Wir gehen davon aus, dass wir gesund werden, wenn uns etwas genommen wird, von dem wir behaupten, das es uns am Gesundsein hindert.
„Ich mag den Stress, die Probleme nicht mehr, ich will nicht mehr ärgerlich sein, ich leide an meinem Leid, meinem Neid, meiner Habgier, meiner Aggression. Was soll ich tun? Nimm mir das!“ Wie können wir das „Licht“ finden? Was fehlt da?
Nehmen wir als Beispiel den Ärger, einen Geisteszustand, von dem viele Menschen beherrscht werden, der zu Aggression und Zerstörung führen kann und in vielerlei Hinsicht als Leid empfunden wird. Wenn ich ärgerlich werde, kann mich die Praxis in die Lage versetzen, nicht spontan zu reagieren, sondern zurückzutreten und mich zu öffnen für die gesamte Situation.
In diesem Da-sein mit dem, was gerade geschieht, wird es mir jetzt möglich zu erkennen, wie ich diese Situation aus meiner Sicht, aus meinen Vorstellungen und aus meinen Konditionierungen heraus einordne und bewerte:
„Das sollte es nicht geben, das darf nicht sein, das stelle ich mir anders vor, wie kann man sich bloß so verhalten….“
Ablehnende, bewertende, verurteilende und negative Gedanken; Ich- bezogen, besser wissend, überheblich.
Das könnte man als „die Ursache des Ärgers erkennen“ bezeichnen. Aber es ist nur der erste Schritt im „Tiefen schauen“! Diese negative Geisteshaltung kann man sich nicht abgewöhnen, kann sie nicht aus seinem Geist „herausschneiden“. Was fehlt, sind die uns allen innewohnenden zutiefst menschlichen Geisteshaltungen wie Toleranz, Geduld, liebevolle Hinwendung, Offenheit, Verstehen, Mitgefühl, Kreativität…
Das ist das „Licht“ das fehlt, dass wir aktiv kultivieren können und in dessem Schein sich die Dunkelheit auflöst.
Die vierte Praxis: Das Ganze sehen – im Ganzen stehen
Die Praxis wird uns, wenn wir die verschiedenen Praxisaspekte üben, ganz behutsam, beinahe unmerklich, aus unserem engen, ich-bezogenen, durch unsere Programme und Konditionierungen begrenzten Geist herausbringen. Sie wird uns öffnen, uns bewusster und verständnisvoller werden lassen. Wir werden beginnen, das Ganze zu sehen, zu verstehen, dass alles entsteht und sich verändert aufgrund von Ursachen und Bedingungen.
Je mehr ich dahingehend über, desto heiterer und gelassener bin ich in der Welt. In dem großen Ganzen ist alles ein Prozess der sich meiner direkten Kontrolle entzieht.
Dieser Körper zum Beispiel gehört nicht mir. Ich habe ihn nicht kreiert und ich kann nicht entscheiden, wann er aufhört. Ich habe keine endgültige Kontrolle über ihn. Ich kann ihn beeinflussen, aber mehr nicht. Ich kann letztlich nichts kontrollieren, weil mir letztlich nichts gehört. Es gibt keinen Besitz in diesem Universum, denn Besitz heißt, etwas gehört mir ganz alleine und ich kann es kontrollieren und beherrschen nach meinem Willen.
Wenn wir das ganz tief begreifen, sozusagen realisieren, lösst sich die Vorstellung vom „Loslassen“ auf, denn sie setzt die Illusion vom „festhalten können“, voraus!
Das ist dann unsere letzte, endgültige Praxis: jegliches Festhalten, jegliches „Anhaften“ loszulassen.
Das sollte uns jedoch nicht zu Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit verleiten, zu der Sicht, dass wir diesem Prozess des Lebens einfach nur ausgesetzt sind. Wir sind Teil des Ganzen und damit auch „Co-Creator“, so nenne ich das. Wir beeinflussen den Prozess durch unsere Gedanken und die damit verbundenen Handlungen. Wenn es uns ein Bedürfnis ist, dass der Prozess des Lebens und damit vor allem die Entwicklung der Menschheit in Richtung von Bewusstheit und Mitgefühl gehen sollte, müssen wir alles daran setzen, unsere Unbewusstheit, den Automatismus unserer konditionierten Verhaltensweisen zu überwinden, indem wir Bewusstheit, Kreativität, Wohlwollen und Mitgefühl kultivieren.
Überarbeiteter Auszug aus einem Vortrag von Karl Riedl beim Retreat „Loslassen – unser Anhaften überwinden“ in Hohenau am 11. Mai 2013