Bewusstes Gehen

Bewusstes gehen findet nicht nur im Meditationsraum oder während der formalen Gehmeditation statt.

Ob schnell oder langsam, im Haus oder in der Fußgängerzone, jede Strecke, die wir während des Tages gehen, ist eine Möglichkeit, Geist und Körper zusammenzubringen und ganz im gegenwärtigen Moment präsent zu sein.

Die formalen Praxiszeiten helfen uns, die Erfahrung des Bewussten Gehens zu machen, und diese Erfahrung können wir dann in die vielen Strecken hineinbringen, die wir jeden Tag zurücklegen. Dabei gehen wir in drei Geschwindigkeiten: Im Meditationsraum beim sogenannten Kin Hanh ist die Geschwindigkeit langsam, beim bewussten Gehen im Freien gehen wir in einer durchschnittlichen Gehgeschwindigkeit, und das dynamische Gehen im Atemrhythmus ist schnell. Aber egal ob schnell oder langsam – der wesentliche Punkt beim bewussten Gehen ist, bewusst zu sein.

Die Körperhaltung

Um die Erfahrung des bewussten Gehens möglichst unmittelbar in den Alltag übertragen zu können, verzichten wir auf besondere Körperhaltungen bei der formalen Gehmeditation. Allerdings sollte die Körperhaltung aufrecht und würdevoll sein und ein fließendes, sanftes Gehen ermöglichen. Denn: Die Körperhaltung wirkt sich auf den Geist aus!

  • Der Körper ist aufrecht und entspannt, der Kopf ist aufrecht und der Blick weich und weit.
  • Wenn man beim Kin Hanh den Fuß ganz entspannt nach vorne setzt, wird er sich natürlicherweise mit dem Ballen zuerst aufsetzen.
  • Wenn die Geschwindigkeit zügiger ist, schwingen die Arme während dem Gehen locker und natürlich gegengleich zu den Schritten mit. Das bedeutet wenn der linke Fuß nach vorne geht schwingt der rechte Arm nach vorne, wenn der rechte Fuß nach vorne geht schwingt der linke Arm nach vorne.
  • Wenn die Schritte bei schnellerem Gehen mit der Ferse aufgesetzt werden, sollte dies auf eine sanfte, gefühlvolle Art und Weise geschehen.

1. Kin Hanh

Das Kin Hanh ist die „Fortführung der Meditation im Gehen“, als solche aber nicht auf den Meditationsraum beschränkt. Kin Hanh kann im Wohnzimmer, im Wald, im Büro oder in der U-Bahnstation geübt werden. Es ist für viele Menschen eine sehr hilfreiche Übung, da durch die Kombination von Körpererleben und Atem der Geist sehr stark gebunden wird. Besonders kann Kin Hanh in Stresssituationen sehr hilfreich sein, um aus einem Gedankenkarussell auszusteigen, sich zu erden und wieder in einen „denk-fähigen“ Zustand zu kommen.

Den Geist sammeln und „erden“

Das Hauptaugenmerk liegt an diesem Punkt der Praxis darauf, den Geist auf den Kontakt der Füße mit dem Boden auszurichten, immer wieder aus den Gedanken in den Körper zu kommen und sich zu „erden“.

Nachdem du dich in die Körperhaltung eingefunden hast, lenke das Gewahrsein zum Kontakt der Füße mit dem Boden. Spüre, wie sich die Empfindungen verändern, wenn du das Gewicht verlagerst, wie sich der Fuß vom Boden abrollt, du ihn nach vorne bewegst und sanft aufsetzt. Die Empfindung des Kontaktes der Füße mit der Erde ist der Anker, auf dem der Geist sanft abgelegt wird und zu dem man zurückkommen kann, wenn man sich in Gedanken verliert. Dabei ist wichtig, die Aufmerksamkeit nicht zu sehr nach innen zu ziehen und „in sich zu versinken“.

Das Erleben der aufrechten, offenen Körperhaltung bleibt im Hintergrund bestehen und man hält den gleichen Abstand zur Person vor sich.

Schritte und Atem miteinander verbinden

Wenn man einige Erfahrung im Ausrichten des Geistes gesammelt hat, kann man Schritte und Atem miteinander verbinden:
einatmen, den linken Fuß einen Schritt nach vorne setzen – ausatmen, den rechten Fuß einen Schritt nach vorne setzen.
Das Einatmen beginnt, wenn der linke Fuß beginnt abzurollen, das Ausatmen beginnt, wenn der rechte Fuß beginnt abzurollen.

Auf diese Weise stellt sich ein langsamer, tiefer und gleichmäßiger Atemrhythmus ein. Dieser tiefe, gleichmäßige Atemrhythmus gleicht das ganze Körper-Geist-System aus und hilft, in einen ausgeglichenen, bewussten Zustand zu finden. Wenn der Atem sehr flach ist, ist es eventuell nötig, zuerst im Liegen mit der tiefen Bauchatmung vertraut zu werden, um nicht in ein kurzes „Trippeln“ zu kommen.

In diesem Schritt weitet sich der Geist ein wenig, so dass er nun mit zwei Objekten gleichzeitig verbunden sein kann: den Kontakt der Fußsohlen mit dem Boden und den Atem. Auch jetzt bleiben das Erleben der aufrechten Körperhaltung und der Kontakt zur Gruppe immer im Hintergrund beibehalten.

Gegenwärtigkeit erleben

Mit zunehmender Vertrautheit wird es ganz natürlich geschehen, sich immer mehr für sein Erleben zu öffnen. Präsent zu sein ist ein ganz bestimmtes Gefühl, das man erfahren und mit dem man vertraut werden kann und das sich anders anfühlt, als in Gedanken verloren zu sein. Die Frage ist: „Wie fühlt es sich an, bewusst zu sein?“

Gewahrsein des Körpers und des Atems treten jetzt etwas in den Hintergrund, so dass innerlich Raum entsteht, um unser Erleben deutlicher wahrnehmen zu können. Dieses Erleben von Gegenwärtigkeit ist jetzt sozusagen unser neues Objekt, in dem der Geist ruht, und ausgehend von diesem Erleben merken wir, wenn wir abweichen oder unklar werden. Atem und Schritte sind der Anker im Hintergrund, auf den wir immer wieder zurückkommen können, wenn wir abrutschen, um dann wieder in das Erleben von Gegenwärtigkeit zu finden.

Bei diesem und dem nächsten Schritt wird es am Anfang hilfreich sein, sich immer nur kurz auf das Erleben von Gegenwärtigkeit auszurichten, um dann den Geist wieder auf den Schritten ruhen zu lassen. So bleibt die Praxis leicht, beweglich und spielerisch, was es leichter macht, wirklich zu fühlen, dass man gegenwärtig ist und nicht nur zu denken, man sei gegenwärtig.

Den Geist öffnen

In den ersten beiden Schritten geht es darum, den Geist zu sammeln und in eine Erleben von Präsenz zu finden. Nun geht es darum, sich aus dem Erleben von Zentriertheit und Präsenz heraus zu öffnen.

Man behält den Kontakt zur Körperhaltung, Schritten und Atem bei, und ist sich gleichzeitig (also ohne schnell hin und her zu wechseln) der Geräusche im Raum bewusst. Nach einiger Übung wird der Geist in einen präsenten, unabgelenkten und gleichzeitig offenen Zustand wechseln. In diesem Zustand ist es möglich, sich des Körpers (Haltung, Atem, Schritte), des Erlebens des eigenen Geisteszustandes und des Raumes (Geräusche, die anderen Menschen) auf eine panoramische Art und Weise detailliert und um-fassend bewusst zu sein.

Die Herausforderung besteht darin, sich nicht unbemerkt in subtilen Ablenkungen zu verlieren und diffus zu werden oder in der Qualität der Wachheit nachzulassen. Dieser Schritt sollte deshalb zuerst nur für kurze Zeit geübt werden, um dann den Geist mit Atem und Schritten erneut zu sammeln, ehe man sich erneut öffnet.

2. Bewusstes Gehen in der Natur

Der Unterschied zwischen einer Gehmeditation und einem Spaziergang ist, dass wir uns bei ersterem bewusst sind, dass wir gehen. Das bedeutet, dass wir den Geist im Körper verankern und ganz da sind. Natürlich sind wir auch mit unserer Umgebung verbunden, aber unsere Aufmerksamkeit springt nicht von einem interessanten Objekt zum nächsten, sondern wir bleiben in unserem Körper verankert, und von diesem Zentrum aus sind wir in einer offenen Art und Weise mit der Umgebung verbunden.

Im Vergleich zum Kin Hanh ist das bewusste Gehen im Freien schneller und der Untergrund und das Umfeld im Freien erfordern mehr Aufmerksamkeit. Dies bedeutet, dass die Aufmerksamkeit nicht mehr vorwiegend auf die Empfindungen in den Fußsohlen gerichtet ist. Obwohl der Kontakt der Füße mit dem Boden deutlich wahrgenommen wird, tritt die kinästhetische Wahrnehmung des Körpers als Ganzes in den Vordergrund. Dies weitet den Geist ein wenig, so dass ein Teil der Aufmerksamkeit freigesetzt ist, um den Untergrund und die Umwelt wahrzunehmen.

Wie beim Kin Hanh auch ist die Grundübung, den Geist zu sammeln, in den Körper zu bringen und sich immer wieder erneut zu erden. Auch hier gilt: Wenn du dich in Gedanken verlierst, stelle dies fest und kehre sanft und liebevoll zurück.

Hat man einige Stabilität entwickelt, kann man sich ganz bewusst für sein Erleben öffnen. Gesammelt zu sein, Gegenwärtig zu sein, ganz da zu sein sind alles bestimmte Erlebenszustände, die wir runder, positiver oder uns angemessener erleben, als zerstreut und geistesabwesend zu sein. Sensibel zu werden für unseren Geisteszustand und vertraut zu werden mit dem entsprechenden Erleben ist ein wichtiger Aspekt unserer Praxis.

Ist der Geist zentriert und gesammelt, kann man sich ganz bewusst nach außen öffnen und den Geist weiten, so dass man mit völlig offenen Sinnen in der Welt geht. Trotzdem verliert man sich nicht im Außen, sondern hat die Wahrnehmung des gehenden Körpers als Anker, zu dem man immer wieder zurückkehren kann. So ist man ganz da im Körper, im Gehen und in der Welt.

3. Dynamisches Gehen im Atemrhythmus

Bei dieser Form des bewussten Gehens werden Atem und Schritte miteinander kombiniert, um die Körperenergie gezielt zu beeinflussen.

Da wir schnell gehen, ist es nicht mehr möglich, die feineren Details der Bewegung wahrzunehmen. Wir nehmen den Körper im Fluss des Gehens wahr und sind offen für die Umgebung, um sicher in einer größeren Geschwindigkeit gehen zu können.

Achte darauf, dass die Bewegung etwas Leichtes und Fließendes behält. Besonders wichtig sind die aufrechte Haltung und die Entspannung im Unterbauch. Die Arme schwingen gegengleich (rechtes Bein vorne, linker Arm vorne und umgekehrt).

Zur Beeinflussung der Energien gilt:

  • Die Energie ausgleichen: Ein- und Ausatmen gleich lang
    Beginne mit 4 Schritte ein, 4 Schritte aus, steigere langsam bis 8 Schritte ein und 8 Schritte aus.
  • Energetisieren: Einatmen länger als Ausatmen
    Beginne mit 6 Schritten ein, 4 Schritten aus, steigere bis hin zu 8 Schritte ein und 4 Schritte aus.
  • Beruhigen: Austamen langer als Einatmen
    Beginne mit 4 Schritten ein, 6 Schritten aus, steigere bis hin zu 4 Schritte ein und 8 Schritte aus.

Den Geist binden

Eine besondere Hilfestellung, den Geist stärker an die Bewegung zu binden, ist, die Schritte mit dem Atemrhythmus zu kombiniert und die Schritte zu zählen bzw. mit Worten zu verbinden.

Abhängig von der Atemlänge ist das zum Beispiel:

Einatmen-1-2-3, Ausatmen 1-2-3-4, usw.

Beachte dazu, dass hier der Atem natürlich fließt und man sich lediglich der Schritte und des Atems bewusst ist. Es geht nicht darum, den Atem zu beeinflussen wie im Rahmen des dynamischen Gehens im Atemrhythmus. Die genaue Anzahl von Schritten je Atemzug ist für jede Person anders und variiert mit der Geschwindigkeit, mit der Steigung des Untergrundes.

Anstatt die Schritte zu zählen können die Schritte auch mit inspirierenden Wörtern oder Gathas (kurzen Praxisversen) oder inspirierenden Worten zu verbinden.

Beispiele hierfür sind:

ja-ja, danke-danke oder „Ich bin angekommen- ich bin Zuhause“

Diese beiden Methoden sind sehr wichtig, um den Geist zu binden und zeitweise aus dem ständigen diskursiven Denken auszusteigen. So können wir erleben und das Vertrauen entwickeln, dass man nicht dauernd denken muss.

Allerdings sollte dabei auf zwei Punkte geachtet werden. Zum einen ist Achtsamkeit oder Bewusstheit für uns etwas anderes als „auf etwas zu achten“, was immer die Angst vor Fehlermachen, vorsichtig sein und Spannung beinhaltet.

Bewusst-sein ist ein entspannter, offener und präsenter Zustand, in dem wir mit dem Gehen ganz da sind.

Das Zählen der Schritte

So wichtig dies ist, man lernt dabei nicht, direkt mit den Gedanken zu arbeiten, denn der Geist wird so auf eine gewisse Art und Weise beschäftigt gehalten und Gedanken unterbunden. Wir empfehlen deshalb, diese Hilfen beim Erreichen einer gewissen Stabilität loszulassen. Nur wenn wir Gedanken zulassen, können wir lernen, sie loszulassen und zur Körperwahrnehmung zurückzukehren. So lernen wir, uns nicht mit den Gendanken zu identifizieren und schaffen Raum, uns für das Erleben von Sammlung und Gegenwärtigkeit zu öffnen.

Einige Hinweise für die tägliche Praxis

Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Praxis des Kin Hanh für viele Menschen sehr unterstützend ist. Vor allem der Kontakt der Fußsohlen mit dem Boden ist ein sehr starker Anker, der eine große Unterstützung ist, sich zu erden. Gleichzeitig helfen das tiefe, gleichmäßige Atmen und die fließende Bewegung, das ganze Körper-Geist-System auszugleichen und ins Fließen zu bringen.

Macht man bei dieser Form des Gehens die Erfahrung, unabgelenkt und präsent zu sein, kann diese auf das Gehen generell ausgeweitet werden. Deshalb verzichten wir ganz bewusst auf eine besondere Arm-haltung, so dass die Erfahrung des gesammelten, gegenwärtigen Gehens einfacher in den Alltag mitge-nommen werden kann. Das Gehen ist hier wie im Meditationsraum auch, nur etwas schneller. So kann jeder Weg uns in der Praxis unterstützen.

Viel Freude mit der Praxis!