Praxis im Alltag
Formale Meditation und Praxis im täglichen Leben sind nicht zwei voneinander unabhängige Bereiche, sondern beeinflussen und ergänzen sich gegenseitig. So kann in der geschützten Atmosphäre des Meditationsraumes leichter ein offener, ruhiger und wacher Geist erlebt werden. Je vertrauter uns dieses Erleben ist, desto öfter und natürlicher können wir damit im täglichen Leben in Kontakt kommen. Gleichzeitig erhöht die konstante Praxis im Alltag unser Bewusstsein, positive Geistesfaktoren können kultiviert und bestimmte Muster aufgelöst werden, wovon wiederum die formale Meditation profitiert. Die Praxis ist somit ein Gesamtsystem, dessen Teile sich gegenseitig stärken.
Sie führt zu einem geistigen Entwicklungsprozess, der es erlaubt, mit immer mehr Weisheit und Mitgefühl in der Welt zu leben.
Folgende Aspekte der Meditation können immer wieder während des Tages praktiziert werden.
1. Ganz dabei sein
Unsere grundlegende Praxis heißt „ganz dabei zu sein“ bei allem, was ich tue: gehen, essen, spülen.
Thay nennt das: „You have to invest your whole being“.
Aber wir üben das nicht, um ganz dabei zu sein, sondern weil ich ganz dabei bin, entsteht das Erleben von bewusst sein in mir.
Wenn ich bewusst Geschirr spüle, sind da keine Gedanken mehr.
Aber es geht nicht darum, nicht zu denken, sondern einen gehobenen, wachen Geisteszustand zu erleben, der nicht spontan wertet, vergleicht und einordnet: Bewusstsein.
Doch Vorsicht: Gemeint ist keine Konzentration oder ein Flow-Zustand (Absorption), sondern eine entspannte, wache, beständige Präsenz.
So sagt man im Zen: „Wenn ich gehe, gehe ich. Wenn ich esse, esse ich. Wenn ich spüle, spüle ich.“
2.Rezeptiv werden
„Da sein mit den Dingen“ ist eine weitere grundlegende Praxis in unserer Tradition.
Normalerweise überprüfen wir unsere Umwelt ständig und ordnen sie in „förderlich“ oder „gefährlich für mich“ ein: wir sind im survival mode, im Überlebensmodus. Dies ist manchmal sinnvoll, jedoch nicht ständig.
Hole deinen Geist während des Tages immer wieder aus diesem zerstreuten, unruhigen Zustand heraus. Tritt innerlich zurück, lockere den Griff der Ichbezogenheit und werde weit und weich. Eine schöne Übung hierzu ist, einfach in diesem ruhigen, rezeptiven Zustand aus dem Fenster zu schauen und da zu sein mit der Landschaft.
3. Von impulsiven Handlungen zurücktreten
In unserer Tradition wird dieser Ansatz „Stoppen“ genannt. Es geht aber um mehr als „Anhalten, wenn die Glocke geht“.
Gemeint ist die Fähigkeit, von impulsiven, automatischen Handlungen zurücktreten zu können.
Die Übung beginnt damit, sich der Automatismen zuerst einmal bewusst zu werden: „Jetzt verhalte ich mich automatisch“.
Im Laufe der Zeit können dann die Handlungsimpulse wahrgenommen werden, die diesen Handlungen vorausgehen. Wir können erkennen, ob sie zu ungeschickten, leiderzeugenden Handlungen führen. Ist das so, können wir von dem Impuls zurücktreten.
Dem Impuls nicht folgen zu müssen setzt jedoch eine gewisse innere Kraft voraus – und die will trainiert sein! Nach langer Praxis ist es möglich, die erste Regung im Geist wahrzunehmen und gleich gegenzusteuern. So entsteht das Vertrauen: „Ich muss nicht reagieren!“
4. Prinzipien als Leitfaden
Prinzipien, Ideale oder Gelübde sind wirkungsvolle Hilfen, um von ungeschickten Handlungen zurücktreten zu können. Sie geben uns sozusagen einen Leitfaden, aufgrund dessen wir Verhaltensweisen blockieren oder fördern. Diese Vorgaben müssen uns jedoch persönlich berühren, denn nur so entsteht die nötige überzeugende Kraft, wirklich von schädlichem Verhalten Abstand zu nehmen. Mache dir dazu den Unterschied zwischen Moral und Ethik bewusst.
Im Zen sagt man: „Verhalte dich auch alleine so, wie wenn du mit Gästen zusammen wärest.“
5. Erleben der erkennenden Qualität des Geistes
Aufbauend auf diesen Aspekten können wir beginnen, uns nicht mehr direkt mit unseren Gedanken und Gefühlen zu identifizieren. Es kann ein Erleben entstehen von: „Ich kann die Gefühle erkennen und muss nicht darauf reagieren“. Es entsteht eine Lücke: etwas zu sehen, ohne spontan zu handeln – und deshalb ist es möglich zu sehen, was in der Situation wirklich zu tun ist.
Das führt zu der Erkenntnis, dass es etwas in mir gibt, das sehen kann, ohne handeln zu müssen – die erkennende Qualität des Geistes. Wachsende Vertrautheit damit führt zu immer größerem Vertrauen in die Weisheit des klaren Geistes.
6. Sich erden: in Kontakt mit der Realität sein
Die klassischen Hier-und-Jetzt-Schulen helfen uns, aus unseren geistigen Welten auszusteigen, uns zu erden und in Kontakt mit der Realität zu kommen.
Bestimmte Situationen aktivieren Erinnerungen und das limbische System meldet: „Gefahr“. Kognitiv wissen wir bereits, dass es sich um eine Erinnerung handelt. Aber das ist nicht ausreichend, die Angst ist noch da. In diesem Moment müssen wir in Kontakt mit der Realität kommen und überprüfen: „Was ist hier und jetzt eigentlich los? Ist die Situation wirklich gefährlich?“
Die Erinnerung kann jedoch Details umfassen, die nicht alle direkt entkräftet werden können. Diese sollten wir ernst nehmen und aktiv überprüfen, ob sie der Wirklichkeit entsprechen. Das kann bedeuten, durchs Haus zu gehen und zu sehen: „Ja, es ist alles in Ordnung!“ Über die Jahre entsteht Vertrauen in unseren bewussten Geist, der die Dinge sehen kann und die Beherrschung durch die Erinnerung ver-schwindet.
Aber nicht nur Erinnerungen, sondern auch Zukunftsszenarien lassen uns den Kontakt zur Realität verlieren. Hier gilt das gleiche: Sich erden, auf den Boden kommen: Was liegt jetzt im Moment an?
7. Lernen, zwischen Vorgaben und Bewerten zu unterscheiden
Es gibt gewisse Vorgaben, die eingehalten werden müssen. Sollte sich jemand nicht daran halten, kann ganz sachlich und schlicht darauf hingewiesen werden.
Dies ist keine Wertung, da eine Wertung immer mit sozialer Einordnung und einem grundlegenden Gefühl der Ablehnung verbunden ist.
Im Gegenteil: Diese einfache, mutige Klarheit erzeugt ein Gefühl der Sicherheit in uns und trägt dazu bei, das Vertrauen in unseren bewussten Geist zu stärken!